Signatur: BArch, MfS, AOP, Nr. 12324/63, Bd. 4
Im April 1957 verfasste die MfS-Bezirksverwaltung Magdeburg ein Flugblatt, das sie im Notaufnahmelager Uelzen in der Bundesrepublik in Umlauf brachte. Ziel war es, Misstrauen im Notaufnahmeverfahren von DDR-Flüchtlingen und Übersiedlern zu säen.
Die Notaufnahmelager in Uelzen (Niedersachsen) und Gießen (Hessen) zählten zu den größten Überwachungsprojekten der Stasi in der Bundesrepublik. Flüchtlinge, die illegal die DDR verließen, und Übersiedler, die offiziell über einen Ausreiseantrag ausreisten, mussten hier eine Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik beantragen. Beide Aufnahmeeinrichtungen galten für die Staatssicherheit als feindliche Objekte.
Für die Stasi waren die Objekte aus drei Aspekten interessant: Zum einen kamen hier Menschen zusammen, die der DDR den Rücken gekehrt hatten. Aus Sicht der SED und der Staatssicherheit handelte es sich um »Republikflüchtige« – und damit um Straftäter. Zudem waren in den Notaufnahmelagern vor allem in den 1950er-Jahren antikommunistische Widerstandsgruppen präsent. Der eigentliche Grund aber war die sogenannte Notaufnahme, ein 1950 etabliertes Überprüfungsverfahren für Flüchtlinge und Übersiedelnde aus der DDR.
Die Stasi interessierte sich von Beginn an für jedes Detail des Verfahrens und der dazugehörigen Verwaltung. Inoffizielle Mitarbeiter fotografierten Gebäude und Mitarbeiter der Lagerverwaltung. Sie fertigten Lagepläne an und skizzierten die Einrichtung der Büros. Die Stasi-Offiziere schickten auch Vertrauensleute als Flüchtlinge getarnt nach Gießen und Uelzen, um das Verfahren auszukundschaften. Nach ihrer Rückkehr sollten sie über jede Station im Lager Auskunft geben.
Mehr als alles andere standen allerdings die westlichen Geheimdienste im Fokus. Grundrisse und Möblierung ihrer Büros in Gießen und Uelzen hielt die Stasi in zahlreichen Zeichnungen fest. Rückkehrende sollten Namen und Adressen von Geheimdienstmitarbeitern nennen und über ihre Erlebnisse in den Zweigstellen für Befragungswesen Auskunft geben.
Um auch ohne Unterstützung vor Ort Einfluss auf das Lagerleben zu nehmen, blieb der Stasi nichts anderes übrig, als auf Briefe und Flugblätter zurückgreifen, die sie an einzelne Mitarbeitende der Lagerverwaltung sendete. Ihr Ziel: Misstrauen säen und den Ruf des Notaufnahmeverfahrens schädigen. Das vorliegende Flugblatt, das im Notaufnahmelager Uelzen kursierte, erstellte die MfS-Bezirksverwaltung Magdeburg im April 1957.
Seit Jahren stehen das Notaufnahmeverfahren und die aus diesem Gesetz geschaffenen Einrichtungen in Uelzen, Giessen und Berlin-Marienfelde im Mittelpunkt des Interesses vieler Menschen in beiden Teilen Deutschlands. Entstanden ist das Notaufnahmeverfahren aus der Spaltung unseres Vaterlandes, und wir - seine Angestellten - verdanken ihr unsere Existenz.
Da aber die Vereinigung unseres deutschen Vaterlandes so bestimmt kommen wird, wie der Tag auf die Nacht folgt - und zwar ganz anders, als es sich einige hochgestellte Persönlichkeiten in unserer Bundesrepublik heute noch vorstellen - müssen wir also schlußfolgern, daß das Notaufnahmeverfahren sich eines Tages erübrigt, aber übrig bleiben wir. Und was wird dann aus uns? Auf diese peinliche Frage wurden nicht wenige unserer Angestellten im NAV erst in den letzten Märztagen vorbereitet, als ihnen die Kündigungen auf den Schreibtisch flatterten. Wer von uns möchte dann nicht gern seine Erfahrungen, sein Wissen unserem neuen deutschen Staat zur Verfügung stellen?
Ob nun der einzelne von uns oder die Gesamtheit der Angestellten des Notaufnahmeverfahrens die Möglichkeit haben werden, unserem gesamtdeutschen Staat einmal zu dienen, hängt im entscheidenden Maße davon ab, wie unser Volk im gesamtdeutschen Rahmen unsere Tätigkeit im NAV dann einschätzen wird. Es - unser Volk - wird doch die Frage stellen, diente die Tätigkeit der Angestellten des NAV der Einheit unseres Vaterlandes oder seiner Spaltung? - Wer möchte dann noch als Spalter eingeschätzt werden?
Obwohl wir mit Befriedigung feststellen können, daß der größte Teil der Angestellten des NAV rechtschaffene Menschen sind und ihre Probe auch in einem einheitlichen deutschen Staat bestehen würden, gibt es doch eine Reihe Angestellter - leider vielfach in den leitenden Stellen - die ihre Vertrauensstellung dazu ausnutzen, alle Entscheidungen, die sie täglich zu treffen haben, von der Stellungnahme ausländischer oder sogenannter deutscher Geheimdienste, die wiederum eng mit den ausländischen zusammenarbeiten, abhängig zu machen. Sie treiben als Deutsche keine deutsche Politik, sondern die Politik ausländischer Geheimdienste.
Kommen wir damit nicht alle in ein schlechtes Licht? Ist es nicht an der Zeit, daß wir uns von solchen Menschen, die den Namen "Deutschland" ihrer eigensüchtigen Interessen wegen mit Füßen treten, beginnen abzugrenzen?
Es ist kein Zufall, daß diese Menschen, die ihr Deutschtum für ein Butterbrot verkaufen, auch von der allgemeinen Moral nicht viel halten. Da gibt es unter ihnen Menschen, die nach außen hin den guten Familienvater spielen, aber nur solche Angesellten zu Sekretärinnen machen, die ihnen gefügig sind. Ihre Zügellosigkeit geht sogar soweit, daß sie sich nicht scheuen, es gleich im Dienstzimmer zu tun,
Straftaten gegen die staatliche Ordnung
Straftaten gegen die staatliche Ordnung waren Straftatbestände des 8. Kapitels des StGB/1968. Insbesondere der 2. Abschnitt ("Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung") enthält politische Strafnormen, die für die strafrechtliche Untersuchungstätigkeit der Staatssicherheit (Untersuchungsorgan) von großer Bedeutung waren.
Das gilt vor allem für § 213 ("Ungesetzlicher Grenzübertritt"), der in der Honecker-Ära Grundlage von rund der Hälfte aller MfS-Ermittlungsverfahren war. Auch § 214 ("Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit") spielte, vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Ausreiseantragstellern, in den 80er Jahren eine immer wichtigere Rolle.
Ähnliches gilt für § 219 ("Ungesetzliche Verbindungsaufnahme") und § 220 ("Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung"), die die ähnlichen, aber schwerer wiegenden Strafnormen aus dem 2. Kapitel des StGB/1968 § 100 ("Staatsfeindliche Verbindungen", ab 1979 "Landesverräterische Agententätigkeit") und § 106 ("Staatsfeindliche Hetze") weitgehend verdrängten (Staatsverbrechen).
Straftaten gegen die staatliche Ordnung
Straftaten gegen die staatliche Ordnung waren Straftatbestände des 8. Kapitels des StGB/1968. Insbesondere der 2. Abschnitt ("Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung") enthält politische Strafnormen, die für die strafrechtliche Untersuchungstätigkeit der Staatssicherheit (Untersuchungsorgan) von großer Bedeutung waren.
Das gilt vor allem für § 213 ("Ungesetzlicher Grenzübertritt"), der in der Honecker-Ära Grundlage von rund der Hälfte aller MfS-Ermittlungsverfahren war. Auch § 214 ("Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit") spielte, vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Ausreiseantragstellern, in den 80er Jahren eine immer wichtigere Rolle.
Ähnliches gilt für § 219 ("Ungesetzliche Verbindungsaufnahme") und § 220 ("Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung"), die die ähnlichen, aber schwerer wiegenden Strafnormen aus dem 2. Kapitel des StGB/1968 § 100 ("Staatsfeindliche Verbindungen", ab 1979 "Landesverräterische Agententätigkeit") und § 106 ("Staatsfeindliche Hetze") weitgehend verdrängten (Staatsverbrechen).
Fotos des Geländes des Notaufnahmelagers Gießen 1 Fotografie
Vorschlag zur Organisation der Verhinderung von Fluchten über die Grenze Dokument, 7 Seiten
Foto der Zweigstelle für Befragungswesen in Gießen 1 Fotografie
Bericht über die operative Bearbeitung von Rückkehrern in die DDR Dokument, 23 Seiten