Signatur: BStU, MfS, AS, Nr. 204/62, Bd. 12, Bl. 38-42
Das Ministerium für Staatssicherheit nahm die Stimmungen und aufkeimende Proteste in der Phase unmittelbar nach dem Mauerbau genau in den Blick. Unter der "Kennziffer 4" berichtete die Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt Erich Mielke über die Situation im Grenzgebiet.
Bis zum Mauerbau am 13. August 1961 verließen über drei Millionen Menschen die DDR. Dieser Aderlass verursachte enorme wirtschaftliche Schäden, denn viele junge, gut ausgebildete Bürgerinnen und Bürger flohen in den Westen. Diese "Abstimmung mit den Füßen" widersprach zudem der propagierten Überlegenheit des "real existierenden Sozialismus", worunter das politische Ansehen der SED litt.
Mit dem Bau der Berliner Mauer gelang es den DDR-Machthabern zwar die zuletzt dramatisch anwachsende Fluchtbewegung einzudämmen, vollständig gestoppt konnte sie jedoch nicht werden. In den ersten Monaten gab es im Sperrsystem noch erhebliche Lücken. Nur allmählich gelang es DDR-Sicherheitsbehörden diese zu schließen. Für die Staatssicherheit wurde die vorsorgliche Verhinderung weiterer sogenannter "Republikfluchten" zu einer zentralen Aufgabe und legitimierte aus ihrer Sicht die möglichst lückenlose Überwachung aller Lebensbereiche der DDR-Bürger.
Die Staatssicherheit nahm kritische Stimmungen und aufkeimende Proteste unmittelbar nach der Grenzschließung genau in den Blick. Unter der "Kennziffer 4" berichtete etwa die Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt über die Situation im Grenzgebiet. Das vorliegende Schreiben an Erich Mielke vom 21. September 1961 dokumentiert eine Reihe "negativer" Äußerungen aus dem Raum Plauen. Daraus geht hervor, dass die Fluchtbewegung keineswegs vollständig gestoppt werden konnte und durch die Befürchtung neuer Zwangsumsiedlungen aus dem Grenzgebiet weiter genährt wurde.
Und in der Tat plante die SED-Führung zur "Erhöhung der Sicherheit an der Staatsgrenze West" 1961 erneute Zwangsumsiedlungen. Unter der Bezeichnung Aktion "Festigung" begann in den Morgenstunden des 3. Oktobers 1961 die Vertreibung tausender Menschen aus dem Grenzgebiet, die als "Unsicherheitsfaktoren" galten.
Ministerium für Staatssicherheit
Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt
– Der Leiter –
Karl-Marx-Stadt, den 22.9.61
Tgb.-Nr. Ltg./843/61
An die
Regierung der
Deutschen Demokratischen Republik
Ministerium für Staatssicherheit
– zu Hd. d. Ministers
Gen. Generaloberst Mielke
Berlin
Betr.: Kennziffer 4
In der Anlage übersende ich Ihnen einen weiteren Bericht über Kennziffer 4 mit der Bitte um Kenntnisnahme.
Leiter der Bezirksverwaltung
(Gehlert) [Anmerkung: gemeint ist Siegfried Gehlert]
Oberstleutnant
Anlage
4 Blatt
Straftaten gegen die staatliche Ordnung
Straftaten gegen die staatliche Ordnung waren Straftatbestände des 8. Kapitels des StGB/1968. Insbesondere der 2. Abschnitt ("Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung") enthält politische Strafnormen, die für die strafrechtliche Untersuchungstätigkeit der Staatssicherheit (Untersuchungsorgan) von großer Bedeutung waren.
Das gilt vor allem für § 213 ("Ungesetzlicher Grenzübertritt"), der in der Honecker-Ära Grundlage von rund der Hälfte aller MfS-Ermittlungsverfahren war. Auch § 214 ("Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit") spielte, vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Ausreiseantragstellern, in den 80er Jahren eine immer wichtigere Rolle.
Ähnliches gilt für § 219 ("Ungesetzliche Verbindungsaufnahme") und § 220 ("Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung"), die die ähnlichen, aber schwerer wiegenden Strafnormen aus dem 2. Kapitel des StGB/1968 § 100 ("Staatsfeindliche Verbindungen", ab 1979 "Landesverräterische Agententätigkeit") und § 106 ("Staatsfeindliche Hetze") weitgehend verdrängten (Staatsverbrechen).
Die Allgemeine Sachablage (AS) ist Bestand 2 der Abteilung XII. Der Bestand enthält v. a. sachbezogene Unterlagen. Größte Registraturbildner waren die HA I, die HA IX und das BdL. Des Weiteren liegen hier auch Vorgangshefte und Objektvorgänge sowie Akten der MfS-Vorgänger. Inhalte sind u. a. Ermittlungen zu Havarien und Unfällen, Untersuchungen von Widerstand und Flucht, Berichterstattung an die SED, Eingabenbearbeitung, Kontakte mit Ostblock-Diensten und Sicherung von Großveranstaltungen. Der Bestand ist zugänglich über ein BStU-Findbuch und die F 16. Der Umfang beträgt 490 lfm.
Im Zusammenhang mit der Verwaltungsreform der DDR vom Sommer 1952 wurden die fünf Länderverwaltungen für Staatssicherheit (LVfS) in 14 Bezirksverwaltungen umgebildet. Daneben bestanden die Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin und die Objektverwaltung "W" (Wismut) mit den Befugnissen einer BV. Letztere wurde 1982 als zusätzlicher Stellvertreterbereich "W" in die Struktur der BV Karl-Marx-Stadt eingegliedert.
Der Apparat der Zentrale des MfS Berlin und der der BV waren analog strukturiert und nach dem Linienprinzip organisiert. So waren die Hauptabteilung II in der Zentrale bzw. die Abteilungen II der BV für die Schwerpunkte der Spionageabwehr zuständig usw. Auf der Linie der Hauptverwaltung A waren die Abteilung XV der BV aktiv. Einige Zuständigkeiten behielt sich die Zentrale vor: so die Militärabwehr (Hauptabteilung I) und die internationalen Verbindungen (Abteilung X) oder die Arbeit des Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten in Westberlin (Abteilung XVII). Für einige Aufgabenstellungen wurde die Bildung bezirklicher Struktureinheiten für unnötig erachtet. So gab es in den 60er und 70er Jahren für die Abteilung XXI und das Büro der Leitung II Referenten für Koordinierung (RfK) bzw. Offiziere BdL II. Für spezifische Aufgaben gab es territorial bedingte Diensteinheiten bei einigen BV, z. B. in Leipzig ein selbständiges Referat (sR) Messe, in Rostock die Abt. Hafen.
An der Spitze der BV standen der Leiter (Chef) und zwei Stellv. Operativ. Der Stellv. für Aufklärung fungierte zugleich als Leiter der Abt. XV. Die Schaffung des Stellvertreterbereichs Operative Technik im MfS Berlin im Jahre 1986 führte in den BV zur Bildung von Stellv. für Operative Technik/Sicherstellung.
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Signatur: BStU, MfS, AS, Nr. 204/62, Bd. 12, Bl. 38-42
Das Ministerium für Staatssicherheit nahm die Stimmungen und aufkeimende Proteste in der Phase unmittelbar nach dem Mauerbau genau in den Blick. Unter der "Kennziffer 4" berichtete die Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt Erich Mielke über die Situation im Grenzgebiet.
Bis zum Mauerbau am 13. August 1961 verließen über drei Millionen Menschen die DDR. Dieser Aderlass verursachte enorme wirtschaftliche Schäden, denn viele junge, gut ausgebildete Bürgerinnen und Bürger flohen in den Westen. Diese "Abstimmung mit den Füßen" widersprach zudem der propagierten Überlegenheit des "real existierenden Sozialismus", worunter das politische Ansehen der SED litt.
Mit dem Bau der Berliner Mauer gelang es den DDR-Machthabern zwar die zuletzt dramatisch anwachsende Fluchtbewegung einzudämmen, vollständig gestoppt konnte sie jedoch nicht werden. In den ersten Monaten gab es im Sperrsystem noch erhebliche Lücken. Nur allmählich gelang es DDR-Sicherheitsbehörden diese zu schließen. Für die Staatssicherheit wurde die vorsorgliche Verhinderung weiterer sogenannter "Republikfluchten" zu einer zentralen Aufgabe und legitimierte aus ihrer Sicht die möglichst lückenlose Überwachung aller Lebensbereiche der DDR-Bürger.
Die Staatssicherheit nahm kritische Stimmungen und aufkeimende Proteste unmittelbar nach der Grenzschließung genau in den Blick. Unter der "Kennziffer 4" berichtete etwa die Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt über die Situation im Grenzgebiet. Das vorliegende Schreiben an Erich Mielke vom 21. September 1961 dokumentiert eine Reihe "negativer" Äußerungen aus dem Raum Plauen. Daraus geht hervor, dass die Fluchtbewegung keineswegs vollständig gestoppt werden konnte und durch die Befürchtung neuer Zwangsumsiedlungen aus dem Grenzgebiet weiter genährt wurde.
Und in der Tat plante die SED-Führung zur "Erhöhung der Sicherheit an der Staatsgrenze West" 1961 erneute Zwangsumsiedlungen. Unter der Bezeichnung Aktion "Festigung" begann in den Morgenstunden des 3. Oktobers 1961 die Vertreibung tausender Menschen aus dem Grenzgebiet, die als "Unsicherheitsfaktoren" galten.
Ministerium für Staatssicherheit
Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt
– Abteilung VII –
Plauen, den 21.09.1961
Betr.: Kennziffer 4
Zu 1)
Die politisch-ideologische Situation im Grenzgebiet ist gekennzeichnet durch die Sicherungsmaßnahmen unserer Regierung zum Schutz der Staatsgrenze West. Während die Maßnahmen in Berlin von einem großen Teil der Grenzbevölkerung begrüßt wurden, ergaben sich bei der Einführung der Sicherungsmaßnahmen im Grenzgebiet Diskussionen und negative Meinungen. Im Mittelpunkt der Diskussionen steht das Problem der Grenz-Passierscheine für das 5 km Sperrgebiet. Weiterhin die Frage des Anbaues landwirtschaftlicher Kulturen im 5 m Schutzstreifen, sowie die bevorstehende Säuberungsaktion.
Die in allen Grenzgemeinden durchgeführten Einwohnerversammlungen, auf denen von führenden Funktionären die Sicherungsmaßnahmen im Grenzgebiet erläutert wurden, waren unterschiedlich stark besucht. Zu verzeichnen war jedoch bei allen Versammlungen, daß sich die Einwohner der Gemeinden nicht zur Diskussion meldeten sondern erst angesprochen werden mußten. So wurden z.B. in Gutenfürst einige Personen durch den 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED angesprochen, welche in der Vergangenheit mit negativen Äußerungen aufgetreten waren, wie z.B. der [geschwärzt], welcher geäußert hatte: "Ich kann nicht verstehen, warum man mich nicht nach WD fahren läßt. Wenn ich bei meinen Verwandten bin, dann treibe ich keine Politik und da werde ich auch nicht eingesteckt."
Oder die [geschwärzt], welche gegenüber dem ABV äußerte: "Den Rundfunk höre ich nicht an, das sind ja sowieso alles Lügen. "
Die Personen versuchten dann in ihrer Stellungnahme ihre Äußerungen abzuschwächen oder spielten die Beleidigten.
Auch viele Genossen verstanden die Neuregelung des Passierscheinwesens nicht und traten dagegen auf. Dies war besonders zu verzeichnen in der Zeit als der Schulanfang vor der Türe stand und viele die Besuche ihrer Verwandten erwarteten.
So gab es auf einer Mitgliederversammlung der SED in der Gemeinde Sachsgrün am 29. 08. 1961 unter den Genossen viele Diskussionen zur Frage der Passierscheine. Sie können nicht verstehen, daß die nächsten Verwandten keine Passierscheine für das Grenzgebiet erhalten. U.a. wurden auch solche Diskussionen geführt wie, "wir laufen Streife mit der VP und setzen uns auch für die Ziele unserer Partei und unseres Staates ein, aber unsere Angehörigen dürfen nicht zu uns". In den Diskussionen kamen solche Vorschläge, daß man wenigstens die Verwandten ersten und zweiten Grades in das Grenzgebiet lassen soll. Sie wollten auch die Gewähr übernehmen, daß ihre Verwandten nicht r-flüchtig werden.
Weiter wurde auch zum Ausdruck gebracht, daß die Ausgabe von Passierscheinen in den VPKÄ's zu unterschiedlich erfolgt und Ausnahmen gemacht werden.
Der [geschwärzt], welcher Kreisleitungsmitglied ist, möchte, dass seine Mutter nach Posseck einreisen kann. Er äußerte: "Diese Sache ist überspitzt
Straftaten gegen die staatliche Ordnung
Straftaten gegen die staatliche Ordnung waren Straftatbestände des 8. Kapitels des StGB/1968. Insbesondere der 2. Abschnitt ("Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung") enthält politische Strafnormen, die für die strafrechtliche Untersuchungstätigkeit der Staatssicherheit (Untersuchungsorgan) von großer Bedeutung waren.
Das gilt vor allem für § 213 ("Ungesetzlicher Grenzübertritt"), der in der Honecker-Ära Grundlage von rund der Hälfte aller MfS-Ermittlungsverfahren war. Auch § 214 ("Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit") spielte, vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Ausreiseantragstellern, in den 80er Jahren eine immer wichtigere Rolle.
Ähnliches gilt für § 219 ("Ungesetzliche Verbindungsaufnahme") und § 220 ("Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung"), die die ähnlichen, aber schwerer wiegenden Strafnormen aus dem 2. Kapitel des StGB/1968 § 100 ("Staatsfeindliche Verbindungen", ab 1979 "Landesverräterische Agententätigkeit") und § 106 ("Staatsfeindliche Hetze") weitgehend verdrängten (Staatsverbrechen).
Die Allgemeine Sachablage (AS) ist Bestand 2 der Abteilung XII. Der Bestand enthält v. a. sachbezogene Unterlagen. Größte Registraturbildner waren die HA I, die HA IX und das BdL. Des Weiteren liegen hier auch Vorgangshefte und Objektvorgänge sowie Akten der MfS-Vorgänger. Inhalte sind u. a. Ermittlungen zu Havarien und Unfällen, Untersuchungen von Widerstand und Flucht, Berichterstattung an die SED, Eingabenbearbeitung, Kontakte mit Ostblock-Diensten und Sicherung von Großveranstaltungen. Der Bestand ist zugänglich über ein BStU-Findbuch und die F 16. Der Umfang beträgt 490 lfm.
Im Zusammenhang mit der Verwaltungsreform der DDR vom Sommer 1952 wurden die fünf Länderverwaltungen für Staatssicherheit (LVfS) in 14 Bezirksverwaltungen umgebildet. Daneben bestanden die Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin und die Objektverwaltung "W" (Wismut) mit den Befugnissen einer BV. Letztere wurde 1982 als zusätzlicher Stellvertreterbereich "W" in die Struktur der BV Karl-Marx-Stadt eingegliedert.
Der Apparat der Zentrale des MfS Berlin und der der BV waren analog strukturiert und nach dem Linienprinzip organisiert. So waren die Hauptabteilung II in der Zentrale bzw. die Abteilungen II der BV für die Schwerpunkte der Spionageabwehr zuständig usw. Auf der Linie der Hauptverwaltung A waren die Abteilung XV der BV aktiv. Einige Zuständigkeiten behielt sich die Zentrale vor: so die Militärabwehr (Hauptabteilung I) und die internationalen Verbindungen (Abteilung X) oder die Arbeit des Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten in Westberlin (Abteilung XVII). Für einige Aufgabenstellungen wurde die Bildung bezirklicher Struktureinheiten für unnötig erachtet. So gab es in den 60er und 70er Jahren für die Abteilung XXI und das Büro der Leitung II Referenten für Koordinierung (RfK) bzw. Offiziere BdL II. Für spezifische Aufgaben gab es territorial bedingte Diensteinheiten bei einigen BV, z. B. in Leipzig ein selbständiges Referat (sR) Messe, in Rostock die Abt. Hafen.
An der Spitze der BV standen der Leiter (Chef) und zwei Stellv. Operativ. Der Stellv. für Aufklärung fungierte zugleich als Leiter der Abt. XV. Die Schaffung des Stellvertreterbereichs Operative Technik im MfS Berlin im Jahre 1986 führte in den BV zur Bildung von Stellv. für Operative Technik/Sicherstellung.
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Bericht der BV Karl-Marx-Stadt über die Situation im Grenzgebiet zur Bundesrepublik Dokument, 4 Seiten
Bericht der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt nach Abschluss der Zwangsumsiedlungen 1961 Dokument, 3 Seiten
Analyse der Stimmung der Bewohner des Grenzgebietes in Berlin-Mitte vom 21. Februar 1962 Dokument, 2 Seiten
Bericht über die Stimmung unter den Angehörigen der Deutschen Grenzpolizei Dokument, 9 Seiten