Bericht über die Beobachtung eines Rentners, dass der Verzehr von Salat und Milch abgelehnt wird
Signatur: BArch, MfS, BV Suhl, Abt. VII, Nr. 6687, Bd. 7, Bl. 1-2
Die Stasi beobachtete genau, wie die Bürgerinnen und Bürger der DDR auf das Unglück in Tschernobyl reagierten. Heraufziehende Ängste und Unzufriedenheiten, so befürchtete die Geheimpolizei, könnten womöglich die politischen Verhältnisse destabilisieren.
Der Super-GAU im sowjetischen Kernkraftwerk in Tschernobyl am 26. April 1986 war der bis dahin schwerste nukleare Unfall bei der zivilen Nutzung der Kernkraft. Die Folgen des Unglücks waren beispiellos. Die unkontrolliert entwichene Radioaktivität war immens, kannte weder Landes- noch Kontinentalgrenzen und ihre Langzeitfolgen halten bis heute an.
Wie der SED-Staat insgesamt sah sich das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) durch Tschernobyl zahlreichen Herausforderungen ausgesetzt. Unmittelbar musste der politische und ideologische Schaden für die SED-Diktatur begrenzt werden. Das Credo "Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen" wirkte nach dem Unglück hohl. Auch die Wirtschaft der DDR war von Schaden bedroht: Die Bundesrepublik, ein wichtiger Abnehmer für Lebensmittel aus ostdeutscher Produktion, ließ aus Angst vor verstrahlter Ware Lieferungen nicht mehr über die Grenze.
Mit dem Reaktorunglück entstand über Nacht zudem eine neue sicherheitspolitische Herausforderung. Die ostdeutsche Anti-Kernkraftwerks-Bewegung, die in Opposition zu der Kernenergiepolitik, der Umweltpolitik und der Informationspolitik der SED-Partei- und DDR-Staatsführung stand, musste nun konsequent bekämpft werden.
Genau beobachtete die Stasi, wie die Bevölkerung der DDR auf das Unglück reagierte. Eine Woche nach Bekanntwerden der Katastrophe fasste die Zentrale Informations- und Auswertungsgruppe (ZAIG) der Stasi die Stimmung zusammen. Pflichtschuldigst notiert der Bericht zunächst Mitleidsbekundungen mit den Familien der Todesopfer und den betroffenen Bauern in der Sowjetunion. Und ganz im Sinne der Staatsführung behauptet die Stasi, unter den Bürgerinnen und Bürgern sei bereits „Beruhigung und Befriedigung“ eingetreten.
Jedoch kam die Stasi nicht umhin, den Unmut der Bevölkerung zu registrieren. Gerade die verharmlosende und unzureichende Berichterstattung der DDR-Medien sorgte für Ärger. Denn durch das „Westfernsehen“ waren die Bürger über das wahre Ausmaß des Unglücks durchaus im Bilde, und der Kontrast zur Berichterstattung der offiziellen DDR-Medien war offensichtlich.
In dieses Bild passt der vorliegende Bericht, den die Transportpolizei Suhl an die Kriminalpolizei der Bezirksbehörde der Volkspolizei weiterleitete, und der von dort in die Stasi-Unterlagen gelangte. Dem Dokument zufolge hatte ein Rentner beobachtet, dass die Bürgerinnen und Bürger in Leimbach und Bad Salzungen aus Angst vor der Strahlenbelastung auf frische Lebensmittel verzichteten. Der Bericht führt dies auf den Einfluss "westlicher Massenmedien" zurück und stellt fest, dass die Menschen "den Argumenten des Gegners" glaubten.
Metadaten
werden soll. Es wird die Frage gestellt, wie das nun bei uns in der DDR ist. Der Güterbodenarbeiter [anonymisiert], parteilos, 54 Jahre, Bf. Hildburghausen, äußerte in einem Gespräch über den Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl, daß er befürchtet, auch schon atomar verseucht zu sein. Er sagte weiter, im Westen geben sie schon Tabletten aus und vernichten bereits angebautes Gemüse.
Der Güterbodenarbeiter[anonymisiert], parteilos, 46 Jahre, Bf. Hildburghausen, sagte in diesem Zusammenhang noch, bei uns dauert das so und so immer etwas länger, und ehe die ausgeschlafen haben (damit meinte er Partei und Regierung), ist sowieso alles zu spät.
Im Bereich des Raw Meiningen traten Diskussionen bezüglich des Reaktorunglücks hauptsächlich aufgrund des schlechten anfänglichen Informationsflusses seitens der Sowjetunion bzw. von seiten unserer Massenmedien auf. So wird als Grundtendenz eingeschätzt, daß bei einem derartigen Unglück es regelrecht unverantwortlich ist, die Öffentlichkeit derart zu desinformieren. Durch den Raw-Beschäftigten [anonymisiert], parteilos, ca. 35 Jahre, wurde geäußert, daß ein derartiges Unglück heutzutage zwar überall auftreten kann, daß jedoch entscheidend ist, daß die Öffentlichkeit rechtzeitig über die Auswirkungen und Konsequenzen informiert wird, damit derartigen Argumenten, wie sie von seiten des BRD-Fernsehens hervorgebracht werden, offensiv entgegengetreten werden kann. Durch den Schlosser im Raw Meiningen [anonymisiert] wurde geäußert, daß wir einfach nicht begreifen wollen, daß es sich notwendig macht, auch unsere Bürger offen und ehrlich zu informieren, um westlichen Argumenten Paroli zu bieten. Auf der einen Seite veröffentlichen wir laufend unsere gute Zahlenbilanz in der Volkswirtschaft, womit vorerst sowieso keiner etwas anfangen kann, und auf der anderen Seite sind wir nicht in der Lage, bei derartigen Vorkommnissen wie in Tschernobyl schnell zu reagieren. Es wird als traurig eingeschätzt, daß man unseren Bürgern gegenüber im Rahmen der Veröffentlichungen durch die Massenmedien so wenig Vertrauen entgegenbringt. Dies habe sich ja letztendlich auch bei dem Abschuß einer koreanischen Maschine beim Überfliegen sowjetischen Hoheitsgebietes bewiesen.
Der [anonymisiert] des Bf. Bad Salzungen, [anonymisiert], äußerte, daß der Westen die ganze Geschichte zu seinen Gunsten ausschlachtet und mit Absicht Panik unter der Bevölkerung hervorruft. Damit kann man wieder einmal für eine bestimmte Zeit von den eigenen Problemen ablenken und auf der anderen Seite jedem zeigen, wie "gefährlich" und "technisch unterentwickelt" die Sowjetunion ist. An der Haltung der meisten DDR-Bürger zeigt sich, welche Rolle der Einfluß der Massenmedien auf einen Menschen hat. Drüben kennt man nur die eine Seite des Unfalls mit großen Schreckensbildern und unsere Bürger sind ruhiger und besonnener, da wir die Sache ruhig und sachlich auswerten und darüber informieren. Der [anonymisiert] des Bf. Bad Salzungen, [anonymisiert], äußerte, daß man dem Westen noch viel mehr Wind aus den Segeln hätte nehmen können, wenn man etwas früher und ehrlicher informiert hätte. So hatte der Westen genug Spielraum, um die Massen zu verdummen, und die Sowjetunion mußte jeden Tag Gegendarstellungen herausbringen. An der Haltung der UdSSR-Bürger dazu zeigt sich wieder einmal, welche Größe diese Menschen auszeichnet. Der Rangierarbeiter [anonymisiert], parteilos, ca. 25 Jahre, äußerte, daß man auch bei uns langsam mit dem Rummel um die Radioaktivität aufhören solle; oder glaube man, daß alle Bürger bloß Westen sehen? Wenn man noch lange Fernsehsendungen bei uns macht, stößt man die Leute doch vor den Kopf.
Kälber
Hptm. der K