Verlassen des Mannschaftsquartiers
Der olympische Wettbewerb in der Nordischen Kombination verlief für Klaus Tuchscherer weniger erfolgreich als erhofft. Lag er nach dem Springen noch auf Medaillenkurs, geriet er in der Loipe in Rückstand und erreichte am Ende nur den fünften Platz. Seine Teamkollegen holten Gold und Bronze. Die Silbermedaille ging an Urban Hettich aus der Bundesrepublik.
Nach Abschluss des eigenen Wettkampfs verfolgten die Kombinierer die Skispringer, die am letzten Wettkampftag auf der Großschanze um den Sieg kämpften. Anders als seine Teamkammeraden, die den Wettbewerb live an der Bergiselschanze verfolgten, blieb Klaus Tuchscherer im Hotel. Er entschuldigte sich bei seinem Trainer damit, einen Anruf seines Vaters zu erwarten. Als seine Teamkollegen am Abend des 15. Februar 1976 zurückkehrten, trafen sie ihn nicht mehr an.
Eine Durchsuchung seines Zimmers ergab, dass „Sachen des persönlichen Bedarfs“ fehlten. Damit erhärtete sich der sofort geäußerte Verdacht eines „ungesetzlichen Grenzübertritts“, wie das Absetzen von der Reisegruppe strafrechtlich genannt wurde. Umgehend wurden die zuständigen Funktionäre in Innsbruck und Berlin verständigt und Recherchen angestellt. Ziel war es, möglichst schnell den Aufenthaltsort des Sportlers festzustellen und ihn zur Rückkehr zu bewegen.
Erste Nachforschungen ergaben, dass Klaus Tuchscherer in den Tagen zuvor mehrere Anrufe geführt hatte. Mindestens einer davon ließ sich nach Ramsau zurückverfolgen, wo die Nationalmannschaft ein Jahr zuvor im Trainingslager gewesen war. Der Langlauftrainer Johannes Braun erinnerte sich nun an eine frühere Begegnung mit einer jungen österreichischen Serviererin. Sie hatte ihn bei einem späteren Aufenthalt gebeten, einen "Claus" aus der DDR zu grüßen.
Daraufhin machte sich eine kleine Gruppe von der Stasi koordinierter Mitglieder der Olympia-Delegation auf den Weg nach Ramsau. Im einstigen Mannschaftsquartier brachten sie die Anschrift der Serviererin in Erfahrung und suchten diese am Mittag des nächsten Tages in ihrem Elternhaus auf. Dort trafen sie nicht nur das Mädchen, sondern auch den von ihnen gesuchten Teamkollegen an.
Im Verlauf eines vierstündigen Gesprächs bestätigte sich, dass der Olympionike die 17-jährige im Oktober 1975 im Trainingslager kennengelernt und sich in sie verliebt hatte. Danach war er heimlich mit ihr in Briefkontakt geblieben. Am 14. Februar habe er sie dann von seinem Hotel aus angerufen und gebeten, zu ihm nach Innsbruck zu kommen. Dort bestellte sie ein Taxi, das die beiden unbemerkt 140 km von Innsbruck nach Bischofshofen fuhr, wo sie in den Zug umstiegen.
Da die fünfköpfige Delegation hoffte, Tuchscherer durch gutes Zureden für eine Rückkehr ins Team und damit in die DDR gewinnen zu können, verblieben drei von ihnen zwecks weiterer Gespräche in Österreich. Der Rest der Mannschaft fuhr wie ursprünglich geplant am 16. Februar in einem Sonderzug zurück in die DDR. Als die dreiköpfige Delegation Tuchscherer ein zweites Mal im Elternhaus der Serviererin aufsuchen wollte, warteten an der Tür jedoch lediglich westdeutsche Fotoreporter und Freunde der Familie. Später kamen österreichische Gendarme hinzu, die der Delegation Hausfriedensbruch vorhielt und sie aufforderte, sich vom Haus zu entfernen. Die weitere Kommunikation musste daher telefonisch stattfinden.
Um den Druck auf Tuchscherer zu erhöhen, bezog die Staatssicherheit auch dessen Familie in ihr Vorgehen ein. Im Auftrag der Staatssicherheit rief Tuchscherers Vater von Berlin aus aufgelöst bei seinem Sohn an und bat ihn, seinen Entschluss noch einmal zu überdenken. Später berichtete der Mannschaftsmasseur von einem Telefonanschluss der Wiener Botschaft aus, dass sein Vater eine schwere Herzattacke erlitten habe.
Auch der DDR-Botschafter in Wien versuchte, im gewünschten Sinne auf Tuchscherer einzuwirken. Für den Fall einer freiwilligen Rückkehr sicherte er ihm Straffreiheit zu. Ebenso stellte er ihm in Aussicht, im SC Dynamo weiter zu trainieren, im Team der Nationalmannschaft zu bleiben und seine Freundin in die DDR mitnehmen zu dürfen. Den DDR-Pass, der ihm wie üblich nach Ankunft im Ausland abgenommen wurde, legte er ihm zur Abholung bereit.
In der DDR selber liefen die Untersuchungen der Staatssicherheit ebenfalls auf Hochtouren. Sowohl die Hauptabteilung XX/3 in der Berliner Zentrale als auch die Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt und mehrere Kreisdienststellen waren in die Ermittlungen involviert. Zahlreiche Personen aus Tuchscherers Umfeld wurden in den Stasi-Speichern überprüft, Telefone und Räume von Freunden wie Familie abgehört sowie Informationen von offiziellen Stellen und Inoffiziellen Mitarbeitern angefordert. In Österreich wurde für den gesamten Umkreis seines Aufenthaltsortes eine Postkontrolle angeordnet. Ferner wurde eine Information über die Bevölkerungsmeinung zum Vorfall erarbeitet und sowie die politisch-operative Arbeit der Kreisdienststelle Klingenthal in Bezug auf den SC Dynamo Klingenthal evaluiert.
Mitte März erklärte sich Klaus Tuchscherer dann mehr oder weniger überraschend bereit, befristet in die DDR zurückzureisen.